Im letzten Jahr habe ich komplett auf Alkohol verzichtet. Warum? Weil ich irgendwann zum Entschluss gekommen bin, dass mein Trinkverhalten problematisch ist. Was ich zu wenig an Wasser trank, soff ich zu viel an Hochprozentigem. Neulich wurde ein Video von mir auf YouTube hochgeladen, in dem ich über meine Abstinenz spreche. Die Personen aus meinem inneren Kreis – so nenne ich jene Menschen, die mir besonders nahestehen – warteten gespannt auf die Veröffentlichung der Aufnahme. Aus irgendeinem menschlichen Grund ging ich davon aus, dass auch mein Mann in freudiger Erwartung sein würde. Als das Video online war, wollte ich es mir zunächst allein zu Gemüte führen, ehe ich auf den Button «Weiterleiten» klickte. Als ich mich schliesslich vergewissert hatte, dass sich weder ein Doppelkinn noch meine Zornesfalte in den Vordergrund drängten, sagte ich zu meinem Mann: «Wir können uns das Video nun gerne zusammen anschauen, wenn es dich interessiert.» Der letzte Teil meiner Aussage war mehr eine Vorwegnahme als eine Frage, denn ich ging automatisch davon aus, dass er interessiert war. Wider Erwarten antwortete er allerdings: «Wenn du mich so fragst, muss ich dir ehrlich sagen: Nein, eigentlich nicht so!» Seine Worte krachten wie eine Bombe in meinen Schädel. Der dritte Weltkrieg war ausgebrochen. Damit hatte ich nicht gerechnet, obwohl ich es inzwischen eigentlich hätte besser wissen müssen. Ich reagierte mit einer Mischung aus Verletzung, beleidigt sein, Traurigkeit und Wut. Ich musste zuerst verkraften, dass mein eigener Partner kein Interesse an meinen Lebensinhalten zu haben schien, obwohl er mehrmals betonte, dass «Desinteresse» das falsche Wort sei, um seine Empfindungen auf den Punkt zu bringen. Ich blieb jedoch stur, denn für mich war der Fall klar: Er war gerade sowas von in ein soziales Fettnäpfchen gelatscht. Während er versuchte zu erklären, dass er davon ausgegangen war, dass Ehrlichkeit am längsten währe und er die Konsequenzen seiner Aussage nicht hätte voraussehen können, bezeichnete ich sein Verhalten als «social fail» und konnte dabei feststellen, wie sich der manipulative Anteil in mir bemerkbar machte, denn ich sagte etwas herablassend zu ihm: «Aus autistischer Sicht kann ich nachvollziehen, dass es dir schwerfällt, Reaktionen abzuschätzen, aber aufgrund deiner Intelligenz hätte ich erwartet, dass du mittlerweile dennoch in der Lage gewesen wärst, vorausschauender zu handeln.» «Dumme Kuh!» dachte ich mir, als die Worte meinen Mund bereits verlassen hatten. Meine Mutter hatte eine etwas manipulative Seite an oder besser gesagt in sich gehabt, die nicht aus böswilligen Gründen zu Tage trat, aber oft dann, wenn sie überfordert mit ihren eigenen Emotionen gewesen ist. In solchen Situationen erkannte ich mich sehr gut in ihr wieder. Glücklicherweise konnte ich den vorlauten Affen in meinem Kopf jedoch wieder in seine Schranken weisen. In solchen Momenten wird mir immer bewusst, wie schnell ein kleiner Egotrip zu einer Reise ohne Wiederkehr werden kann, wenn man unter Reflexion lediglich die Rückblendelichter am Velo versteht. Es gibt mindestens zwei Extreme, in die man meiner Meinung nach rutschen kann. Bei der ersten Variante rückt man seine eigenen Bedürfnisse erbarmungslos in den Vordergrund. Man will es so und nur so. Es wird kein Millimeter vom eigenen Standpunkt abgerückt. Man nimmt sich nicht die Zeit dafür, das Türchen zu seinem Innersten zu öffnen, um zu schauen, was sich dahinter versteckt. Bei dieser Variante neigt man dazu, seine eigene Wahrnehmung der Realität über diejenige des anderen zu stellen. Man verliert sein Gegenüber aus den Augen, ohne gleichzeitig wirklich sich selbst zu finden. So ähnlich ist es bei der zweiten Variante, nur im gegenteiligen Sinn. In diesem Extrem versucht man alles, um die Bedürfnisse des anderen zu befriedigen, während man seine eigenen hintenanstellt und somit als unwichtig abtut. Man sucht die Fehler bei sich. Schlimmstenfalls lässt man sich manipulieren, verliert sich aus den Augen und aus dem Gefühl. Man begegnet seinem Partner ebenso wenig auf Augenhöhe, wie bei der ersten Variante.
Manchmal ist es ein schmaler Grat, auf dem wir uns bewegen, wenn die Emotionen überkochen. Ich habe einmal zu meinem Mann gesagt: «Wenn du nur ein bisschen narzisstischer wärst und meine Fähigkeit Grenzen zu setzen etwas dürftiger vorhanden wäre, so würden wir das führen, was heutzutage unter dem Begriff «Toxische Beziehung» verstanden wird. Wachstum und Zerstörung liegen manchmal gefährlich nahe beieinander.
Wenn Applejack mit der vollen Wucht meiner Emotionen konfrontiert wird, tendiert er dazu, die Wörtchen «Nie» und «Immer» rege zu gebrauchen. Dies klingt dann in etwa so: «Ich werde NIE wieder so ehrlich sein!» oder «IMMER muss ich mich am Ende schuldig fühlen.». Während es mir aus sämtlichen Löchern pfeift, neige ich dazu, diese emotional polarisierten Gespräche gewinnen zu wollen, wie einen Boxkampf. Applejack tendiert in solchen Situationen zur Sturheit und begibt sich – wie er mir einmal erklärt hat – in eine Welt, die er nicht mehr so einfach verlassen kann. Nun hat er mit mir jedoch ein Gegenüber, das genauso stur ist und sich festbeissen kann wie ein Hund. Ich gebe nicht nach, ehe ich seine Aussage richtig einordnen und verstehen kann, denn oftmals nehme ich das Gesagte anders wahr, als er es gemeint hat. Ein Gespräch gewinnen zu wollen ist weitaus weniger empfehlenswert, als die Intention zu verstehen, was im Gegenüber vorgeht. So beschreibt es auch J. L. Borges: «Man diskutiert nicht, um Recht zu haben, sondern um zu verstehen.» Genauso wichtig ist es mir, dass auch Applejack Einblick in und Verständnis für meine Welt bekommt. Als mir mein Mann also eröffnete, dass er gerade kein Interesse daran habe, sich mein Video anzuschauen und anschliessend mit meinen Emotionen konfrontiert wurde, fügte er an, dass er sich – um des Friedens willen – künftig davor hüten werde, solch ehrliche Aussagen zu tätigen. Dies hätte allerdings bedeutet, dass er mir in vergleichbaren Situationen, ab sofort einfach Interesse vorgeheuchelt hätte. Bei dieser Vorstellung fing es in meinem Oberstübchen an zu tagen. «Ich will nicht, dass ich mich jedes Mal fragen muss, ob deine Erkundigung nun von aufrichtigem Interesse herrührt, oder lediglich eine auswendig gelernte Floskel ist.» meinte ich zu ihm. Ich stellte fest, dass wenn ich sein Verhalten in Frage stellte, gleichzeitig auch mich selbst für einen Moment hinterfragen musste. Wie oft konnte ich eigentlich von mir behaupten, dass ich in der Vergangenheit aus wahrhaftigem Interesse heraus nachgefragt oder ehrlich geantwortet hatte und wie oft bin ich im Grunde desinteressiert und somit zwar höflich, jedoch unaufrichtig gewesen. Machte es tatsächlich mehr Sinn, was die Mehrheit tat, und wollte ich wirklich, dass er auch so agierte? Die Antwort war mir klar: Das wollte ich nicht. Meine Variante mochte zwar zumindest kurzfristig sozialverträglicher sein, dafür war sie – zumindest manchmal – geheuchelt. Seine Option wird vom Pöbel zwar nicht so stark bejubelt, ist aber dafür immerhin ehrlich. Als ich mich ab seiner Antwort ärgerte, ärgerte ich mich im Grunde darüber, dass ich nicht selbst öfters ausspreche, was ich wirklich fühle und denke. Ihn dafür zu rügen, kam mir auf einmal falsch vor.
Da ich meine Emotionen trotz aller Logik nicht verbergen konnte, entschied ich mich dafür, sie ihm zu erklären. Ich führte aus, dass mich seine Antwort kalt erwischt hätte und es für mich gerade nicht leicht sei damit umzugehen, dass er sich nicht automatisch dafür interessiere, was seine Frau öffentlich zu sagen hatte. Seine Begründung war plausibel und dennoch ganz anders als ich es mir gewohnt bin. So meinte er: «Ich lebe ja mit dir zusammen und du hast mir bereits von deinen Erfahrungen erzählt. Weshalb sollte ich mir deine Ausführungen nun nochmals auf Video anschauen?» Obwohl seine Aussage durchaus Sinn machte, befand ich mich noch im Ring. Ich wollte mich nicht so einfach K.o geben. Ich kramte in der hintersten Ecke meiner Weisheitskiste und versuchte ihm zu erklären, dass das Zeigen von Interesse, in der Partnerschaft nun mal eine Form von Unterstützung darstelle. Ich würde mir sein Physik-Video schliesslich auch anschauen, wenn es sich dabei um einen für ihn wichtigen Meilenstein handeln würde. Bereits, als diese Worte meinen Mund verlassen hatten, musste ich schmunzeln und mich innerlich korrigieren, denn ganz ehrlich: Höchstwahrscheinlich wäre ich fünf Minuten nach Beginn seines Vortrages eingeschlafen. Ich versuchte ihn dennoch davon zu überzeugen, dass ich zumindest ein Teil(chen)-Interesse daran zeigen würde. Die Frage lautete an dieser Stelle wiederum: Wie ehrlich wäre dies?
Immer ehrlicher wurde dafür unser Gespräch. Die Affen in meinem Kopf legten die Waffen allmählich nieder und widmeten sich der Selbstreflexion. Trotzdem war es nicht einfach für mich, auf die Schnelle mit Antworten wie der soeben erhaltenen umzugehen. Ich war mir ein anderes Miteinander gewohnt und mochte dieses Miteinander hie und da noch so unaufrichtig sein. Manchmal will man wahrscheinlich auch gar nicht die ganze Wahrheit wissen, was der Harmonie zuliebe nicht per se schlecht sein muss. Meine Gefühlte konnte ich nicht so schnell niederlegen wie meine Waffen. Es brodelte nach wie vor in mir, weshalb es mir nicht möglich war, ihm in die Augen zu schauen, während er sprach. «Ich kann dich gerade nicht ansehen. Ich bin so wütend, dass mich dein blosser Anblick nervt!» teilte ich ihm charmant mit. An dieser Stelle sparte nun ich nicht mit Ehrlichkeit, jedoch zeigte sich einmal mehr, dass wir eben doch kompatibler waren, als man hätte annehmen können. Erstens fiel es ihm gar nicht auf, dass ich ihm nicht in die Augen schaute, weil er grundsätzlich Mühe damit hat, Mimik zu erkennen und richtig zu deuten. Zweitens störte es ihn deshalb nicht, weil es ihm manchmal selbst schwerfällt, anderen Leuten in die Augen zu blicken. Der amerikanische Autor John Elder Robison meint dazu: «Ich weiss jetzt, dass es für mich völlig normal ist, Menschen nicht anzusehen, wenn ich mit ihnen spreche. Wir Asperger fühlen uns damit einfach nicht wohl. Ich verstehe wirklich nicht, warum es als normal gilt, jemandes Augäpfel anzustarren.» Da war sie wieder, die simple Ebene, auf der sich die autistischen Ponys in seinem und die emotionalen Affen in meinem Kopf verstanden. Allzu lange war ich nicht mehr wütend auf ihn. Ich hatte ein Bedürfnis gehabt, das mit einer Erwartungshaltung verknüpft gewesen war. Weder hatte er das Bedürfnis erkennen noch die Erwartungshaltung riechen können. Sein momentanes «Desinteresse» an meiner Videobotschaft hatte nichts mit Desinteresse an mir als Person zu tun und sie sagte auch nichts darüber aus, wie wichtig ich ihm war oder gar, wie sehr er mich liebte. Ich erkannte, dass ich auch in Zukunft lieber Ehrlichkeit, als geheucheltes Interesse von ihm erfahren wollte und er entschied sich dafür, dass er mir seine Wahrheit nun doch nicht für immer und ewig verschweigen wollte.