Einerseits liegt es den meisten Menschen mit der Diagnose Autismus nicht so, Zusammenhänge auf emotionaler Ebene herzustellen oder die Reaktionen von ihren Mitmenschen abzuschätzen. Andererseits lernen auch sie, durch ständige Konfrontation mit der Normgesellschaft, über die Jahre hinweg, einen Umgang mit dieser Diskrepanz. Bestenfalls führt dieses Handling dazu, dass sie damit beginnen, ihre Worte etwas bedachter zu wählen und erkennen, wann eher Zurückhaltung und wann ihr Beitrag gefragt ist. Schlimmstenfalls münden diese vorrangig unangenehmen Begegnungen jedoch in Schweigen, Wortkargheit oder Lügen. Wenn eine autistische Person in ihrer Vergangenheit beispielsweise vermehrt negative Erfahrungen auf der sozialen Ebene gemacht hat, kann dies dazu führen, dass sie künftig versucht, solche Fettnäpfchen zu vermeiden. Dafür greift sie womöglich auf radikal wirkende Maßnahmen zurück, wenn es ihr an alternativen Handlungsmethoden fehlt. Mein Mann beschreibt es in etwa so:
«Entweder denke ich zu viel über bevorstehende Situationen nach, nur um in der Situation selbst festzustellen, dass die Person gar nicht reagiert wie befürchtet oder, ich denke gar nicht über allfällige Konsequenzen meines Handelns nach und bin dann zutiefst erschrocken, ab der unerwartet emotionalen Reaktion meines Gegenübers.»
Es ist ein Spießrutenlauf, den er tagtäglich mit mir trainieren kann, weil ich zwar ein impulsiver Mensch bin, jedoch auch einen hohen Gerechtigkeitsanspruch habe, der es mir möglich macht, Situationen aus der Welt meines Partners und nicht ausschließlich von meinem Planeten aus zu betrachten. Offen gesagt macht es mich wütend, dass sich Menschen, die einer Minderheit angehören nur deshalb anpassen sollen, weil es sich um eine Minderheit handelt, während die Mehrheit nur darum keinen Millimeter Kompromissbereitschaft zeigt, weil sie eben eine Mehrheit darstellt. Ich finde es tragisch, dass wir immer noch dazu geneigt sind, uns eher gegenseitig zu bekriegen, anstatt zu inspirieren, dass wir vernichten, anstatt demütig davon auszugehen, dass wir mit Sicherheit auch etwas vom Fremdartigen lernen könnten. Für mich gilt dies grundsätzlich immer in beide Richtungen. So kann ich beispielsweise von ihm lernen, meine Bedürfnisse ehrlicher und direkter zu kommunizieren, während er durch mich erfährt, weshalb Emotionen manchmal nicht kongruent mit dem rationalem Denken sind.
Wissen hilft meist, jedenfalls dann, wenn man es wissen will. Wenn ich die Hintergründe verstehe, verstehe ich oft den Menschen als Gesamtkonstrukt besser. Das heißt, ich werde wohl zwar bis zum Ende unserer Beziehung mit den Augen rollen, wenn er wieder einmal sein Wissen zum Besten gibt, als hätte er einen kleinen Diktator verschluckt, aber ich kann ihn mittlerweile nicht nur aus rollenden, sondern gleichzeitig auch mit liebenswerten Augen betrachten, weil ich weiß, was uns die ebenfalls autistische Autorin Katja Carstensen zu erklären versucht:
„Wir merken sehr früh, dass wir anders sind. Manchmal versuchen wir uns in unseren Intellekt zu retten und wirken dann hochmütig und arrogant, was es nicht einfacher macht Freundschaften zu schließen und Anerkennung zu finden.“
Der vermeintliche Diktator ist in Wahrheit also auch nur jemand, der seine Wahrnehmung kundtut, wie wir es alle tun. Dabei mag sich eine autistische Person vielleicht weniger Gedanken darüber machen, ob ihre Aussagen für andere allenfalls unangenehm sein könnten, handelt jedoch weder mit der Gewissheit herrscherisch rüberzukommen noch mit der Intention, den Pöbel zu beherrschen. Mein Mann reißt seine Augen meist auch nur deshalb so weit auf, während er spricht, weil ihn das, was wiederum aus meinem aufgerissenen Mund kommt, unerwartet trifft und seine Weltordnung durcheinanderbringt. Er fühlt sich angegriffen, ist erschrocken, irritiert oder alle Dinge gleichzeitig, was den Revoluzzer in ihm zum Vorschein bringt. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob seine Reaktion wirklich verpönter ist als meine, denn ich mag zwar weniger „revoluzzionär“ unterwegs sein, aber wenn ich mich beispielsweise erschrecke, fluche ich wie ein Kesselflicker, was genauso unangenehm für meine Mitmenschen sein kann. Und wenn ich mich angegriffen fühle, zum Beispiel von einem blöden Fenster, an dem ich mir den Kopf stoße, dann schlage ich mit meiner Faust gegen die Scheibe, wie der kleine Diktator in mir selbst auf sein Rednerpult.