Liebesgeflüster

An einem dieser berüchtigten Tage, an denen unsere Planeten meilenweilt voneinander entfernt zu sein schienen, hatte ich den Fehler gemacht ihn zu fragen, was er in unserer Beziehung, auf der Kommunikationsebene, als hilfreich empfinde? Anlass dazu war ein Zitat des Autors Sean Barron. Bei ihm wurde im Alter von vier Jahren die Diagnose Autismus gestellt. Gemeinsam mit seiner Mutter hat er dann zu einem späteren Zeitpunkt das Buch «Hört mich denn niemand?» geschrieben. Barron sagt:

 

„Mir ist klar, dass ich fast meine ganze Kindheit hindurch meine Mutter einfach nicht hörte. Ihre Bemühungen, geduldig und lieb zu mir zu sein, drangen einfach nicht bis zu mir durch. Ich schenkte ihren Wörtern genauso wenig Aufmerksamkeit wie dem Geräusch eines Wagens, der die Straße entlangfuhr. Ihre Stimme war lediglich Hintergrundgeräusch. Nur wenn sie anfing zu brüllen oder zu schreien, drang sie zu mir durch und holte mich für kurze Zeit aus meinem Schneckenhaus.“

 

Mir selbst war auch schon aufgefallen, dass mein Mann, der ja nun kein Kind, aber immer noch Autist war, manchmal erst aus seiner Welt gekrochen kam, wenn ich ihn in eine hitzige Diskussion verwickelte. Nur empfand ich diese Vorgehensweise nicht wirklich als löblich. Es konnte doch nicht sein, dass er an manchen Tagen nur auf mich reagierte, wenn ich die Affen durch meine Nasenlöcher brüllen ließ. Es fühlte sich falsch an. Kommunikation ist wichtig, aber so? Als ich das erwähnte Zitat las, fragte ich mich allerdings, ob es womöglich tatsächlich Momente gab, in denen Applejack für mich nicht anders zu erreichen war und als ich ihn wie erwähnt fragte, was ihm auf der Kommunikationsebene denn helfen würde, hätte ich eigentlich so etwas hören wollen wie: «Deine Geduld» oder «Deine Empathie». Da ich ihm aber ausgerechnet an einem von eben «diesen» Tagen jene Frage gestellt hatte, kam lediglich die auf sich selbst bezogene Antwort «Wenn ich eine gute Phase habe.» Ich wiederum wollte ja aber eigentlich wissen, womit er denn auch in weniger zugänglichen bzw. autistischeren Phasen für mich erreichbar blieb. Er ergänzte: «Ganz ehrlich. In solchen Momenten sind Ansprachen von dir ein Störfaktor in meiner Welt.». Applejack fügte an, dass er sich in solchen Fällen nur mit Mühe auf die Worte, die von außen auf ihn einprasseln, konzentrieren könne. Ich wollte allerdings nicht wahrhaben, dass es dafür keinen Handlungsspielraum gab. «Ich habe kein sehr gutes emotionales Gedächtnis.» pflegte er zu sagen. Damit meinte er, dass er sich oftmals nicht daran erinnern konnte, wie sich etwas zu einem früheren Zeitpunkt angefühlt oder was ihm in konkreten Situationen geholfen hatte. Entweder musste ich ihm Zeit geben, sich bestenfalls doch noch daran erinnern zu können, mit der Gefahr, dass er zwischenzeitlich wieder vergaß, über was er hätte nachdenken sollen oder, ich musste mich selbst um eine Rekonstruktion kümmern. Mir war und ist es jedoch wichtig, ihm keine Worte in den Mund zu legen, sondern ihn sein Erleben selbst formulieren zu lassen. 

Es ist allgemein bekannt, dass Kommunikation auch in der Paarbeziehung besonders wichtig ist. So einfach wie es vergleichsweise heute ist, hat sich das am Anfang unserer Beziehung allerdings nicht gestaltet. So hat Applejack beispielsweise selten nachgefragt oder von seinem eigenen Tagesgeschehen berichtet. Natürlich gab es auch immer wieder Phasen, in denen er beinahe logorrhoisch unterwegs war, weil er sich gerade in einer etwas gehobeneren Stimmung befand oder ihm das, was er wiedergab, als besonders relevant erschien. Wenn ich es mir recht überlege, bestand das Problem eigentlich mehr darin, dass er nicht dieselben Dinge als erwähnens- und hörenswert empfand wie ich. Ich musste ihm gefühlt all das aus der Nase ziehen, von dem ich mir gewohnt war, dass es mir die Menschen in meinem Umfeld, in der Regel von allein erzählten. Es gestaltete sich ebenfalls als herausfordernd, ein Kommunikationsfenster zu finden, in welchem wir uns austauschen konnten, denn früher war er häufig so stark in «seiner Welt» unterwegs, dass da kaum Platz für eine Außenwelt war. Für mich gestaltete es sich zudem schwierig, mich ständig zu äußern, ohne gefragt zu werden. Ich konnte es durchaus als ein Lernfeld betrachten. Da ich wusste, dass bei Applejack die «Gabe des Nachfragens» aufgrund des Autismus nur spärlich vorhanden war, sah ich mich gezwungen, meinen Mund aufzumachen, wenn ich etwas zu sagen hatte. Da es mir  - wie erwähnt -  jedoch nicht immer leicht fiel, den richtigen Zeitpunkt zu finden, um gewisse Themen anzusprechen, riefen wir etwas ins Leben, das nun auch meinem Mann, einen Tag nachdem ich ihm die erwähnte Frage gestellt hatte, wieder in den Sinn kam. So meinte er plötzlich: «Das Paargespräch war etwas, das mir auf der Kommunikationsebene geholfen hat. Nicht, dass ich mich jeweils sonderlich darauf gefreut hätte oder es mir leichtgefallen wäre, mich darauf einzulassen, aber ich konnte mich darauf einstellen, weil ich stets wusste, wann es stattfinden wird. Es war ein gutes Übungsfeld.»

Das Paargespräch war vor allem für mich eine Möglichkeit, nicht mehr angespannt nach dem richtigen Zeitpunkt Ausschau halten zu müssen, an dem ich ihm mitteilen konnte, was mir auf dem Herzen lag. Er wiederum wusste im Voraus, was ihn erwartete und konnte sich entsprechend darauf vorbereiten ohne, dass ich ihn dafür aktiv aus seiner Welt zerren musste. Die anstehenden Gespräche lösten zunächst jedoch häufig große Unsicherheiten in ihm aus, weil er sich durch kritische Rückmeldungen des Öfteren als ganze Person in Frage gestellt fühlte. Diese Tatsache führte jeweils dazu, dass die Gespräche beendet waren, ehe sie richtig begonnen hatten. Doch auch für dieses Problem fanden wir schlussendlich eine Lösung. Welche genau, das erfahrt ihr im nächsten Blogbeitrag. Soviel sei jedoch gesagt: Das Paargespräch wurde für uns eine Zeit lang zu einem Instrument, auf das wir regelmäßig zurückgegriffen haben. Es hat dafür gesorgt, dass sich unsere Welten ohne, dass jemand schreien musste, wieder aufeinander zubewegen konnten, gleichermaßen wie weit entfernt voneinander sie auch gerade sein mochten.