Vergleich-mein-nicht

 

Um eine Situation einordnen zu können, gleichen viele Menschen diese mit Erfahrungen ab, die ihnen analog dazu erscheinen. Insbesondere in Bezug auf Menschen, die eine Beeinträchtigung oder Besonderheit in ihrer Psyche aufweisen, finden Vergleiche schätzungsweise häufig statt. Solche Gegenüberstellungen sind grundsätzlich nicht als negativ einzustufen, sofern sie denn nicht als Wertung dienen, sondern dazu, das eigene Verständnis zu erhöhen.

Ich spreche lieber von Besonderheiten als Beeinträchtigungen, da nicht alle Menschen ihre «Normabweichung» als Beeinträchtigung ansehen. Als Beeinträchtigung nehmen die Betroffenen es vielfach erst dann wahr, wenn es zu einer Konfrontation mit unserer Norm-Gesellschaft kommt.

Wenn Besonderheiten von außen, d.h physisch sichtbar sind, können wir daraus logische Schlussfolgerungen ziehen, mit denen oft automatisch ein gewisses Verständnis und Mitgefühl einhergeht. Bei jemandem, der einen Blindenstock mit sich führt, wissen wir, dass er in seinem visuellen Wahrnehmungsvermögen stark beeinträchtigt ist. Wir zeigen Verständnis und Rücksichtnahme. Bei einer Person, die im Rollstuhl sitzt, können wir uns vorstellen, dass ihrer Flexibilität in der freien Fortbewegung Grenzen gesetzt sind. Wir zeigen Verständnis und Rücksichtnahme. Trägt jemand ein Hörgerät, so verstehen wir, dass dieser Mensch allenfalls auf eine etwas deutlichere Aussprache angewiesen ist. Wir zeigen Verständnis und Rücksichtnahme. Ich spreche von Tendenzen. Wie nahezu immer bestätigen auch hierbei Ausnahmen die Regel. Grundsätzlich zeigen wir jedoch deshalb eher Verständnis, weil wir Mitleid bzw. Mitgefühl empfinden und/oder wir davon ausgehen, dass die betroffene Person keine Schuld an ihrer Besonderheit und dem daraus resultierenden Verhalten trägt. Wir hinterfragen also das Gesehene eher weniger kritisch und nehmen die Ist-Situation an.

Sind Besonderheiten von außen her nicht einseh- oder einschätzbar sieht es mit der Empathie schon wieder etwas anders aus. Einige Symptome einer psychischen Besonderheit sind den meisten von uns bekannt, weil sie in ihrem Leben bereits selbst einmal auf irgendeine Art und Weise zumindest annähernd damit konfrontiert worden sind. So kennen wir in der Regel Ängste, Wut, Freude, Trauer, Leere und gar Zwänge (Habe ich den Herd wirklich ausgeschaltet?). Wir können also Verständnis und Empathie zeigen, wenn jemand ängstlich, wütend, freudig und traurig ist, Leere empfindet oder Zwangsverhalten zeigt. Dabei sind dem Verständnis jedoch gerade bei unwissenden Menschen Grenzen gesetzt. Das Verständnis entspricht dann manchmal lediglich derjenigen Reichweite, welche auch der eigene Erfahrungshorizont aufweist. Deshalb besteht die Gefahr, dass Vergleiche auf einer wertenden Basis verwendet werden. Beispiele dazu lauten: «Ich war auch schon eine Woche lang sehr traurig, aber dann habe ich einfach positiv gedacht und wieder nach vorne geschaut!» oder «Ich war auch schon wütend, aber dann bin ich einfach spazieren gegangen!» oder «Ich hatte auch schon Angst, aber da muss man sich eben überwinden!». Der Moralapostel würde wahrscheinlich noch anfügen: «Sie sollte sich zusammenreißen, es gibt schließlich Menschen, die haben nichts zu essen!» So in etwa können wertende Vergleiche stattfinden, die einem selbst oder anderen das Gefühl vermitteln, dass die Person mit der Besonderheit durchaus aus ihrer Haut schlüpfen könnte wie aus einem ausgeleierten Trainingsanzug würde sie sich nur genügend anstrengen. Wir vergessen gerne, dass wir zwar alle aus «Holz» geschnitzt sein mögen, uns jedoch in der Art der Beschaffenheit deutlich voneinander unterscheiden und deshalb auch jeder Mensch eine etwas andere Voraussetzung hat. Wir haben alle unsere eigenen Stärken und Schwächen.

Es steht ausser Frage, dass sich auch Menschen, deren Besonderheit von außen hin sicht- und definierbar scheint, Vorurteilen und schrägen Blicken ausgesetzt sehen. Ich wage jedoch zu behaupten, dass dem neurotypischen Menschen, wenn er eine Person im Rollstuhl sitzen oder einen Blindenstock tragen sieht, zumindest klar ist, dass diese Begebenheit mit hoher Wahrscheinlichkeit so bestehen bleiben wird und die Besonderheit nicht einfach verschwindet, würde die Person doch lediglich ihre Einstellung ändern und sich ein bisschen mehr zusammenreißen.  Bei Besonderheiten wie Depressionen, Schizophrenie, Zwangsverhalten, Borderline, Autismus, Hochsensibilität etc. tun sich einige offenbar schwieriger mit der radikalen Akzeptanz. Was nicht normal erscheint, muss wieder normal gemacht werden. Die Frage lautet: Normal in seiner Welt oder in meiner?

Je weniger fassbar etwas erscheint, desto mehr Angst haben wir davor. Wissen hilft dabei, solche Unfassbarkeiten einschätzen und verstehen zu lernen. Es gibt allerdings solche, die verstehen nicht, weil sie nicht verstehen können und jene, die verstehen nicht, weil sie nicht verstehen wollen. Die Problematik liegt bei denjenigen Menschen, die nicht verstehen wollen. Sie scheinen so große Angst vor den Besonderheiten anderer Personen zu haben, dass sie diese lieber kategorisch ablehnen, anstatt sich damit auseinanderzusetzen und dadurch nicht nur dem Gegenüber, sondern auch sich selbst die Chance auf Weiterentwicklung zu ermöglichen. Oft lehnen wir Begebenheiten gerade dann so vehement ab, wenn sie uns am nächsten stehen. Psychische Erkrankungen können uns alle treffen. Schicksalhafte, lebenseinschneidende Veränderungen können aus und mit einem Menschen etwas machen, das unsere Vorstellungen, die wir als «gesundes» Individuum haben übersteigt. Wir finden uns plötzlich an einem Punkt wieder, an dem reine Willenskraft allein nicht mehr ausreicht.

Während meiner Arbeit in einer sozialpsychiatrischen Institution sah ich mich regelmäßig mit dem Begriff Hospitalismus konfrontiert, welcher insbesondere bezeichnend für Leute sein kann, die langjährige Erfahrung in stationären Einrichtungen aufweisen. Das heisst vereinfacht formuliert, es kann passieren, dass die betroffenen Personen mit der Zeit lernen, von einem sekundären Krankheitsgewinn zu profitieren. Damit ist gemeint, dass sie merken, dass ihre Diagnose bzw. Besonderheit nebst Tücken, auch gewisse Vorteile mit sich bringt. Man kann sich hinter seiner Krankheit verstecken und sich davor drücken, Verantwortung für sein Verhalten zu übernehmen. Selbst für mich als Fachperson wurde es ab und an schwierig zu erkennen, ob eine Handlung nun mehr dem Verhalten oder der Diagnose zuzuschreiben war, womit ein ständiges Abwägen einherging. Aufrichtiges Verständnis hat nichts mit Kuschelpädagogik zu tun und ich vertrete die Meinung, dass es gerade für Personen, die sich von ihren Symptomen dazu verleiten lassen, sich selbst oder andere Menschen ernsthaft zu gefährden, absolut erforderlich ist, einen adäquaten Umgang damit zu erlernen.

Von jemandem zu verlangen, sich einen angemessenen Umgang mit seiner Diagnose bzw. deren Symptomen anzueignen, sollte jedoch nie heißen, die Person in eine Schublade zu pressen, in die sie nicht reinpasst, sowie es auch keinen Sinn ergibt, eine Blume an einen Ort zu verpflanzen, an dem sie verwelken würde. Tut man dies dennoch, so dürfte klar sein, dass entsprechende Bedingungen geschaffen werden müssen, die sie trotz ungünstiger Voraussetzungen in ihrem Wachstum fördern.

 

Ich frage mich: Wenn es uns also logisch erscheint, daß wir von einer Sonnenblume nicht erwarten können, dass sie im Gebirge unter denselben Voraussetzungen genauso gedeiht, wie dies ein Enzian tun würde, weshalb stellen wir diese Erwartung dann immer wieder an unsere Mitmenschen?

Runaway Train

 

Ich bin geimpft, aber den Teufel weiss ich. Vielleicht wachsen mir als Folge dessen, irgendwann schöne Blümchen auf dem Kopf. Vielleicht aber, wuchert dort in einigen Jahren auch ein Unkraut, das mein Vater früher fluchend von der Wiese entfernt hätte.

Ich weiss Einiges und Vieles nicht. Aufgrund meines sozialpsychiatrischen Hintergrundes weiss ich beispielsweise, dass Zwangsmassnahmen immer eine Art von Grenzüberschreitung und Freiheitsberaubung darstellen. Unangenehm für die Personen, welche die Handlung ausführen und unangenehm für diejenigen, deren Wille in diesem Moment meist gebrochen wird.

Das professionelle Handeln verlangt, dass derartige Interventionen nur im Notfall sprich, wenn keine alternativen Methoden zur Deeskalation beitragen können, angewandt werden. Desweitern sollten diese nur so lange wie nötig, bzw. so kurz wie möglich aufrechterhalten bleiben. Alles andere verträgt sich weder mit dem Erwachsenenschutzrecht noch mit der psychischen Gesundheit eines Menschen. Beides ist – manchmal leider – nicht unantastbar.

Was manchen aus der Akutpsychiatrie bekannt sein dürfte, erleben einige gerade als platonische Fesseln im Hier und Jetzt. Menschen, welche absolut urteils- und handlungsfähig sind, werden über längere Zeit benachteiligt, weil sie nicht die Meinung der ebenso urteils- und handlungsfähigen anderen Individuen teilen.

Es wird von Schutz gesprochen. Schutz würde jedoch bedeuten, nicht nur den Körpern, sondern auch unseren Seelen Sorge zu tragen, denn eine physisch gesunde Gesellschaft könnte instabiler und kränker nicht sein, wenn ihre Psyche leidet. Um das eine zu schützen, nehmen wir Alles in Kauf, was das andere drangsaliert. Wir arbeiten auf Hochtouren an einer virenfreien Physis. Wir maskieren, injizieren und desinfizieren. Genauso tragen wir aktiv zur Vernachlässigung der mentalen Gesundheit bei, indem wir diskriminieren und ausquartieren. Wir ziehen Prinzipien, die wir nie hatten, Freundschaften vor, die ewig sein könnten.

Man spricht von Solidarität. Sie wird aktuell als etwas definiert, das ausschliesst und nicht einschliesst, es sein denn, man versteht Letzteres wortwörtlich. Sie zeigt sich als eine Tugend, die akzeptiert und nicht toleriert, es sei denn, es handelt sich um die eigene Meinung.

Wir fahren mit dem Zug in eine Richtung, die wir nicht kennen sollten, mit Werten, die wir nicht mehr kennen wollen. Wir fahren und zerfahren. Die einen selbsternannt in der ersten Klasse, die anderen in der zweiten. Der Zug hält zwischendurch, doch niemand steigt aus. Irgendwo ertönt die Stimme von Soul Asylum und manch einer hofft, dass wir nicht versehentlich im «Runaway Train» sitzen, dem Zug ohne Rückfahrtticket. 

Partei des gesunden Menschenverstandes

 

Wo ist der gesunde Menschenverstand geblieben?

Wo ist die Welt, in der weder süsse, schwarze Schäfchen für Abstimmungskampagnen missbraucht werden, noch Verbrechern der Kopf getätschelt wird?

Wo sind die Menschen, welche Pandemien nicht mit Verleumdung, aber auch nicht mit Panik begegnen?

Wo sind die Leute geblieben, die über den eigenen Tellerrand hinausschauen und trotzdem bei sich bleiben können?

Wo sind die Eltern, die ihren Kindern Höflichkeit genauso beibringen, wie die Fähigkeit, für ihre Bedürfnisse einzustehen?

Wo sind die Arbeitsplätze, die weder über- noch unterfordern und bei denen die Gefahr eines Burnouts ebenso wenig droht, wie ein Zustand der gähnenden Langeweile?

Weshalb neigen wir dazu, in Extremen zu leben?

In den Extremen glauben wir eine vermeintliche Sicherheit in tatsächlich unsicheren Zeiten zu finden. Wir halten fest, damit wir nicht fallen und merken nicht, an was für eine Fragilität wir uns überhaupt klammern. Wir verlassen uns auf Mauern, Gesetze, Sicherheitsbedingungen, Parolen, Besitztum, makelloses Aussehen und Schönwetter. Wir realisieren nicht, dass wir dabei in unserer eigenen Zufriedenheit und Sicherheit abhängig davon bleiben, wie sich das Weltgeschehen gerade zeigt. Schutzmauern können ins Wanken geraten, Sicherheitsvorkehrungen versagen, Meinungen sich ändern und Gesetze verabschiedet werden. Geld kann an Wert verlieren, Schönheit vergehen und das Wetter umschlagen.

Und was bleibt uns dann, wenn wir uns ausschliesslich darauf verlassen haben?

Eine Ruine unserer eigenen Zufriedenheit?

Ängste die grösser sind, als sie es vorher je hätten sein können?

Eine gespaltene Gesellschaft?

Misere entsteht nicht aufgrund von Respekt und Toleranz, sondern oft deshalb, weil jemand davon ausgeht die Weisheit zu besitzen darüber entscheiden zu können, was richtig und was falsch ist. Vor lauter Angst, Unwissen aushalten zu müssen, ist man schnell dazu geneigt, sich in Beharrlichkeit zu verlieren, anstelle davon, sich in Klugheit und Weitsicht wiederzufinden.

Lasst uns eine Partei des gesunden Menschenverstandes gründen. Eine Partei, in der wir zwischendurch innehalten und uns darüber bewusst werden, dass wir weder Welt- noch Seelenfrieden erlangen, wenn wir davon ausgehen, dass das eine ist und das andere nicht, etwas sein darf und Anderes nicht. Das reine Vorhandensein von Licht erzeugt ebenso wenig einen Regenbogen, wie die ausschliessliche Existenz von Wasser. Der Regenbogen zeigt sich erst dann in seiner Schönheit, wenn diese beiden Elemente den Weg zueinander finden.